Rhonheimer: „Bin ein katholischer Liberaler, kein liberaler Katholik“

In der Weihnachtsausgabe der österreichischen Tageszeitung KURIER erschien ein längeres Interview von Inlandsredakteur Rudolf Mitlöhner mit dem Präsidenten des Austrian Institute zum Thema „Kirche und Kapitalismus und die Anbiederung an den Zeitgeist“. Wir dokumentieren hier die längere online-Fassung des Interviews.


Rudolf Mitlöhner/KURIER: Zu
Weihnachten ist viel davon die Rede, dass die Kirche sich den Armen, Ausgegrenzten, den am Rande Stehenden zuwenden müsse. Wer sind diese heute, in unseren westlichen Gesellschaften?

Martin Rhonheimer: Es sind die Menschen, von denen man am wenigsten spricht: die Alten, die Behinderten, die chronisch Kranken. Von denen spricht man weniger, statt dessen wird oft auf die Migranten verwiesen, die es schwer haben sich zu integrieren – aber nicht unbedingt, weil man es ihnen schwer macht, sondern weil sie es sich selbst schwer machen, weil ihnen ein gewisser Integrationswille fehlt, was nicht eigene Schuld bedeuten muss, sondern auch mit ihren sozialen Netzen, in denen sie stecken, zusammenhängt.

Wie lässt sich diesen Menschen am besten helfen?

Es gibt dafür viele Institutionen, auch die Kirche ist hier natürlich gefordert. Man muss aber sagen: es gibt auch viele Menschen, die in der Abhängigkeit vom Sozialstaat gefangen sind. Menschen, die sich daran gewöhnt haben, Sozialhilfeempfänger zu sein, die gar keinen Anreiz haben, auf eigenen Füßen zu stehen. Das ist ein großes Problem, das führt zu einer Art von Armut, die eher eine geistige als eine materielle ist: weil hier etwas spezifisch Menschliches verloren gegangen oder zerstört worden ist – nämlich der Wunsch, ein eigenverantwortliches, unabhängiges Leben zu führen. Da frage ich mich schon, inwieweit unsere Sozialsysteme dafür verantwortlich sind, dass Menschen überhaupt in solche Situationen kommen.

Rudolf Mitlöhner vom KURIER in den Räumlichkeiten des Austrian Institute im Gespräch mit Martin Rhonheimer (© Bild: Kurier/Jeff Mangione)


Viele Christen leiten aus den biblischen Texten, wie jenen rund um Weihnachten, sehr konkrete sozialpolitische Forderungen ab; das Evangelium ist politisch, heißt es …

Manche dieser Texte werden einfach gegen ihren eigentlichen Sinn interpretiert, etwa die Berichte in der Apostelgeschichte über die ersten Christen, die alles verkauften, alles gemeinsam hatten. Da hat man so eine Art Urkommunismus draus gemacht. Nur, der Kommunismus ist ein Zwangssystem, da darf es kein Privateigentum geben. In der Jerusalemer Urgemeinde gab es diesen Zwang nicht. Das ist das genaue Gegenteil einer Politik, die zwingt zu geben, die den einen etwas wegnimmt, um es anderen zu geben. Es gibt auch das Gleichnis von den Talenten: Jesus lobt ja hier jene Diener, welche das anvertraute Vermögen vermehrt haben – die also kapitalistisch agiert haben.

Reiche, die ihr Vermögen investieren und damit unternehmerisch tätig werden, tun viel für ihre Mitmenschen: Sie schaffen Arbeit für sie, erzeugen Wertschöpfung, technischen und sozialen Fortschritt.

Der Papst sagt hingegen: „Ach, wie sehr möchte ich eine arme Kirche“…

Was heißt Armut? Die Armut, die Jesus gepredigt hat, ist eine innere Armut, eine „Armut im Geiste“. Jesus hat nie Menschen kritisiert, weil sie reich waren – im Gegenteil, sein Freund Lazarus war ein vermögender Mann. Die Forderung des Evangeliums ist, dass wir unser Herz nicht an die Dinge dieser Welt hängen und darüber Gott und die Mitmenschen vergessen. In diesem Sinne können auch materiell arme Menschen „reich“ sein – etwa weil sie voller Neid oder Ressentiments sind. Reiche, die ihr Vermögen investieren und damit unternehmerisch tätig werden, tun viel für ihre Mitmenschen: Sie schaffen Arbeit für sie, erzeugen Wertschöpfung, technischen und sozialen Fortschritt, erhöhen den Lebensstandard aller. Auch ein kapitalistischer Unternehmer kann „arm im Geiste“ sein, wenn er das in der richtigen Absicht tut. Übrigens sagt ja Papst Franziskus auch, man helfe den Menschen am besten, indem man ihnen Arbeit gibt. Dazu braucht es aber auch die „Reichen“, die Arbeitsmöglichkeiten im großen Stil schaffen.

Im heutigen Diskurs gilt die Katholische Soziallehre als eine Art „Dritter“ oder Mittel-Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, auf den sich auch viele christlichsoziale oder christdemokratische Parteien berufen.

Ich würde diese Definition der Katholischen Soziallehre als „Dritter Weg“ bestreiten. Leo XIII. verurteilt in seiner Enzyklika „Rerum novarum“ (1891), die ja ein Schlüsselwerk in diesem Zusammenhang ist, ganz klar den Sozialismus und verteidigt genauso klar das Privateigentum. Die wichtigste und erste Aufgabe des Staates ist es nach Leo XIII., das Eigentum zu schützen. Erst dann kommt Kritik am real existierenden Kapitalismus – nämlich an der Schutzlosigkeit der Arbeiter in den Fabriken: Hier wird gefordert, dass der Staat mit Schutzgesetzen eingreift. Aber der Papst kritisierte nicht das kapitalistische Wirtschaftssystem an sich! Hinzu kam auch noch die Forderung nach einem Lohn, mit dem der Arbeiter seine Familie erhalten kann. Das ist zu verstehen angesichts der Tatsache, dass auch Frauen und Kinder arbeiten mussten, um eine Familie ernähren zu können. Die Kirche wollte aber nicht nur nicht, dass die Kinder arbeiten, sondern auch die Frauen sollten nicht arbeiten – aus evidenten Gründen der damals vorherrschenden gesellschaftlichen Rollenvorstellungen. Aber die Idee des Familienlohnes war natürlich unrealistisch und ökonomisch falsch.

© Bild: Kurier/Jeff Mangione


Aber dieses Verständnis der Katholischen Soziallehre hat sich nicht durchgesetzt …

Es gab meines Erachtens in den 30er Jahren eine kolossale Fehlinterpretation der Ursachen der Weltwirtschaftskrise, die ihren Niederschlag in „Quadragesimo anno“ (1931) von Pius XI. gefunden hat: Hier werden der freie Markt und der Wettbewerb für die Krise verantwortlich gemacht. Hier sagt die Kirche dann, wir brauchen ein neues regulatives Prinzip, und das ist die soziale Gerechtigkeit. Die ist dann Sache des Staates – und bei Pius XI. kommt dann auch gleich noch die berufsständische Ordnung ins Spiel. Wir wissen ja, wohin das geführt hat, als man das in konkrete Politik – Stichwort „Ständestaat“ – umsetzen wollte.

Ist nun aber nicht dieser Traditionsstrang samt seiner Skepsis bis Ablehnung von Wettbewerb und freiem Markt der dominierende in der Soziallehre der Kirche – und auch jener, den sich Parteien mit „C“ im Namen programmatisch angeeignet haben?

Interessanterweise ist ja der moderne Sozialstaat etwa in Deutschland nicht von den Sozialdemokraten, sondern von christdemokratisch dominierten Regierungen im 20. Jahrhundert geschaffen worden; natürlich auch als Antwort auf den Sozialismus. Was die Kirche betrifft: Auch Johannes Paul II. sagt in „Sollicitudo rei socialis“ (1987) ausdrücklich, dass die Katholische Soziallehre kein „Dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus ist. Und in „Centesimus annus“ (1991) hat er die früher für die Kirche typische Äquidistanz zwischen den beiden Systemen aufgegeben und sich – nach dem Scheitern des real existierenden Sozialismus – für einen in eine humane Rechtsordnung eingebetteten Kapitalismus ausgesprochen.

Auch Johannes Paul II. sagt in „Sollicitudo rei socialis“ (1987) ausdrücklich, dass die Katholische Soziallehre kein „Dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus ist.

Johannes Paul II. hat auch von „Strukturen der Sünde“ gesprochen …

Ja, aber der Begriff kommt aus der marxistischen Version der Befreiungstheologie – und wurde vom Papst aufgegriffen, um ihn in moralisch akzeptable Bahnen überzuführen.

Und wie sieht es heute aus?

Seitdem das Konzept der berufsständischen Ordnung als gescheitert gilt und vom Tisch ist, gibt es den Hang in der Kirche, gleichsam die UNO-Agenda zu übernehmen und dem Zeitgeist hinterher zu rennen; die Kirche hat keine originäre Soziallehre mehr. Man kann diese Dinge alle vertreten, auch als Christ, aber man sollte das nicht im Namen der Kirche tun.

Danach sieht es aber aus.

Eben, und das halte ich für ein Problem. Es gibt viele Dinge, über die Christen offen und frei diskutieren können sollten, ohne eine bestimmte Sicht als „christlich“ zu vereinnahmen. Die Antwort auf die Frage, ob der Klimawandel menschengemacht ist oder nicht, sagt nichts darüber aus, ob ich ein guter Christ bin. Das hat kein Fundament in der Glaubenstradition der Kirche und ihrer Morallehre. Und nur aufgrund dieses Fundaments kann etwas im Namen der Kirche gelehrt werden. Alles andere sollte der Freiheit der Gläubigen überlassen bleiben, damit sie sich in diesen Fragen in persönlicher Verantwortung ihre eigene Meinung bilden.

In welchem Verhältnis stehen Liberalismus und Konservativismus zueinander? Ich frage Sie das als katholischen Priester und Vertreter einer auch innerhalb der Kirche als konservativ geltenden Organisation, des Opus Dei.

Vor vielen Jahren habe ich einmal im Rahmen eines längeren Gesprächs zum damaligen Kardinal Ratzinger gesagt: „Eminenz, ich bin kein liberaler Katholik – ich bin ein katholischer Liberaler.“ Daraufhin hat er mich angesehen und gesagt: „Oh, das gefällt mir!“ Ein liberaler Katholik ist einer, der die Prinzipien der säkularen Welt unter dem Deckmantel von Demokratisierung und Pluralisierung in einer Weise in die Kirche hineinträgt, die letztlich das Dogma und die katholische Morallehre auflöst. Aber es muss ja niemand der katholischen Kirche angehören, der mit ihr nicht einverstanden ist. Die Gesellschaft, der Staat sollen selbstverständlich pluralistisch sein bzw. den Pluralismus anerkennen – aber als Katholik möchte ich katholisch sein und fühle mich der Kirche in Fragen des Glaubens und der Moral verpflichtet.

© Bild: Kurier/Jeff Mangione


In vielen konkreten politischen Fragen stehen aber doch konservative und liberale Standpunkte einander diametral gegenüber, Beispiel gleichgeschlechtliche Ehe.

Die klassisch liberale Position ist aber nicht die, die hier unterstellt wird. Die wirklich liberale Position können Sie etwa bei John Locke (1632–1704) nachlesen: Just in einem Kapitel „On Government“ (auf Deutsch würde man sagen: „Über den Staat“) schreibt er über Ehe und Familie, über Mann, Frau und Kinder – weil das für ihn die Grundlage einer jeden staatlichen Ordnung ist. Über gleichgeschlechtliche Beziehungen hätte er vermutlich gesagt: Lassen wir die in Ruhe, die sollen tun, was sie wollen – aber das ist nicht die Grundlage des Staates. Die Verbindung zwischen Mann und Frau, die von ihrem Wesen her eine reproduktive ist, hat eine unerlässliche Funktion für die Gesellschaft. Daraus erklärt sich ihre besondere Stellung. Alle anderen Beziehungen – zwischen zwei Männern oder zwei Frauen oder auch zwischen mehreren Männern und Frauen – sind etwas grundlegend anderes. Es gibt ja auch nicht nur sexuelle Beziehungen – es können ja auch zwei oder mehrere Freunde und Freundinnen miteinander leben, Menschen, die füreinander sorgen.

Die Verbindung zwischen Mann und Frau, die von ihrem Wesen her eine reproduktive ist, hat eine unerlässliche Funktion für die Gesellschaft. Daraus erklärt sich ihre besondere Stellung. Alle anderen Beziehungen sind etwas grundlegend anderes.

Worin unterscheidet sich dann die konservative von der liberalen Position?

Das können Sie bei Friedrich August von Hayek (1899–1992) nachlesen – in seinem Text „Warum ich kein Konservativer bin“. Auch für Hayek haben Ehe und Familie einen ganz hohen Stellenwert – aus den genannten Gründen: Sie sorgen für die Weitergabe von materiellen und geistigen Werten in der Gesellschaft über Generationen hinweg.

Kann man das so trennen: als Katholik bin ich konservativ, als Staatsbürger liberal?

Hayek sagt, der Konservative und der Liberale teilen viele Werte. Daher funktionieren ja auch in der Politik Koalitionen zwischen Konservativen und Liberalen oft gut. Aber der Konservative hat keine politischen Prinzipien, der Liberale schon. Konservative haben Werte und neigen dazu, diese ihre Werte durch den Staat absichern zu lassen. Liberale sagen hingegen, nicht meine Werte, sondern bestimmte politische Prinzipien müssen abgesichert werden. Deswegen hinken Konservative den Entwicklungen immer vielfach hinterher – und unter dem Druck derer, die ihre Werte angreifen, geben sie scheibchenweise nach, rücken heute immer weiter nach links, wie man etwa an der CDU sehr gut beobachten kann. Der echte Liberale gibt nicht nach. Echte Liberale sind aber sehr dünn gesät. Vielfach wird ja der Liberalismus mit einem Relativismus verwechselt, der aber etwas ganz anderes ist.

© Bild: Kurier/Jeff Mangione


Was ist falsch am Relativismus?

Es gab sogenannte Liberale im 19. Jahrhundert, die haben die Religionsfreiheit damit begründet, dass es in religiösen Fragen keine Wahrheit geben könne. Ich halte das für eine sehr schlechte Begründung, denn das heißt: Der Staat gewährt Freiheit nur deswegen, weil es keine Wahrheit gibt. Das ist aber nur die Kehrseite der konservativen Position, welche den Staat für den Schutz der „Wahrheit“ in die Pflicht nehmen will. Meine, liberale, Position lautet hingegen: Der Staat muss die Freiheit um ihrer selbst willen schützen, als Recht der Person, auch wenn diese Person nicht die Wahrheit vertritt (obwohl es eine solche gibt). Ein Relativist kann das nicht sagen. Auch er vertritt nur seine „Werte“, die er durchsetzen will, nicht aber ein politisches Prinzip.

Führt die Kirche nicht letztlich nur noch Rückzugsgefechte, bei denen sie sukzessive Positionen räumt?

Dass dieser Eindruck entstanden ist, liegt daran, dass die Kirche in politischen Fragen oft konservativ denkt und meint, nur so könne sie auch die katholische Moral verteidigen. Auch wenn sie sich überlappen, muss man die Ebenen der Politik und der Moral auseinanderhalten, sonst kommt man ins Schlingern. Die Kirche hat aber dazugelernt. Beispielsweise bei der Homoehe, in einem Dokument der Glaubenskongregation noch aus der Zeit Ratzingers: Da wird nicht moralisch argumentiert, sondern aufgrund politischer, gemeinwohlbezogener Prinzipien, die so eben auch ein Liberaler vertreten kann.

Es ist zum Teil auch Schuld der Kirche, dass sie an Einfluss verloren hat. Sie vertritt vielfach nicht mehr klar ihre Lehre und konzentriert sich nicht auf ihr Kerngeschäft.

Was ist Ihrer Meinung nach der Hauptgrund für den Ansehensverlust der Kirche?

Es ist zum Teil auch Schuld der Kirche, dass sie an Einfluss verloren hat. Sie vertritt vielfach nicht mehr klar ihre Lehre und konzentriert sich nicht auf ihr Kerngeschäft, das ist das „ewige Heil“ der Menschen, oder genauer, wie man traditionell sagte: das Heil der Seelen. Für die Rettung des Klimas brauchen wir die Kirche nicht, dafür gibt es die UNO und den Weltklimarat, die Politik und den technologischen Fortschritt. Das Kerngeschäft der Kirche ist aber das ewige Heil der Seelen, eine Sorge, die immer einhergeht mit der Sorge um die Armen, Benachteiligten, Ausgegrenzten, mit der kirchlichen Caritas, aber nicht, weil es ihr in erster Linie darum geht, die Probleme dieser Welt zu lösen, sondern um die Menschen die Liebe Gottes spüren zu lassen und ihnen dadurch Hoffnung zu geben.

 

Veröffentlichung auf der Website des Austrian Institute mit freundlicher Genehmigung des KURIER.

Hier können Sie die Originalversion finden (nur für Abonnenten).

Melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an.

So halten wir Sie über Neuigkeiten auf unserer Website und die Aktivitäten des Austrian Institute auf dem Laufenden.

Jetzt anmelden