Linksliberalismus Schacherreiter  - © Illustration: Rainer Messerklinger

Christian Schacherreiter: Mein Abschied vom Linksliberalismus

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In seinem Buch "Im Heizhaus der sozialen Wärme" übt Christian Schacherreiter eine Grundsatzkritik an der linksliberalen Sicht der Welt. Eine Zusammenschau in neun Thesen. Und eine Replik von Armin Thurnher.

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In seinem Buch "Im Heizhaus der sozialen Wärme" übt Christian Schacherreiter eine Grundsatzkritik an der linksliberalen Sicht der Welt. Eine Zusammenschau in neun Thesen. Und eine Replik von Armin Thurnher.

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Ein armer Hund geht um in Europa und Amerika – der Linksliberalismus. Aufgestiegen aus der Kulturrevolution 1968, genährt auf den Diskursfeldern der Postmoderne, schwächelt er heute vor sich hin und ist vor allem eines: gekränkt und wütend. Wie konnte man es wagen, ihm, dem Avantgardisten einer besseren Welt, dem Heizmeister der sozialen Wärme, die Nachfolge zu verweigern!

Das politische Phänomen, das wir mit dem vagen Begriff „Linksliberalismus“ benennen, gehört zur kulturellen DNA meiner Generation. Diese Kritik ist daher zu einem nicht geringen Teil auch Selbstkritik. Um Hohn und Spott oder gar um eine „Abrechnung“ geht es mir nicht. Das wäre Autoaggression, und dazu neige ich nicht.

Am Ende könnte die Einsicht stehen, dass Utopien des absolut Guten eher eine seltsame Schrulle unseres Gehirns sind als ein brauchbarer Kompass für politisches Handeln.

  1. Die kapitalistische Marktwirtschaft hat sich – trotz unbestrittener Problemstellen – als überlegene Wirtschaftsform behauptet. Dennoch tut sich die Linke immer noch schwer mit der Wertschätzung von Unternehmertum und privatwirtschaftlichem Erfolg. Dabei sind diese Gewinne die Voraussetzung für den Spielraum der Sozialpolitik. Ein erfolgreicher Kapitalismus ist nicht der Killer des Sozialen, sondern dessen materielle Basis. Er bedarf allerdings sozialpolitisch und ökologisch motivierter Regeln, für die demokratisch legitimierte Regierungen und Parlamente zuständig sind.

    Diese Regeln müssen aber klug gesetzt werden. Nicht jeder Verzicht auf ein Sozialgesetz ist Ausdruck von „sozialer Kälte“, sondern bisweilen der Einsicht geschuldet, dass selbst erfolgreiche Konzerne nicht grenzenlos besteuert und staatliche Haushalte nicht bedenkenlos verschuldet werden dürfen. Die radikalen antikapitalistischen Phrasen, die nach wie vor durch den linksliberalen Diskurs geistern, wirken hilflos, insbesondere dann, wenn sie die Wiedergeburt staatssozialistischer Modelle propagieren.
  2. Ein bevorzugtes Objekt des linksliberalen Diskurses ist die Schule. Nachdem sich die große Hoffnung auf die klassenlose Gesellschaft nicht erfüllt hat, bleibt die kleine Hoffnung auf die klassenlose Klasse. Die Gesamtschule ist der vermeintliche Erfüllungsort der pädagogischen Utopie. Die Linke definiert Schule in erster Linie als sozialpolitisches Instrument. Daraus erklärt sich deren Überfrachtung mit mannigfachen Aufgaben. Schule soll nicht nur Kernkompetenzen vermitteln und für die Arbeitswelt qualifizieren, sie soll auch pädagogische Defizite des Elternhauses kompensieren, Integrationsaufgaben übernehmen, für Umweltbewusstsein sorgen, eine positive Einstellung zur Diversität fördern und durch politische Bildung unerwünschtes Wahlverhalten unterbinden.

    Da die Schule auch für das Wohlbefinden der Kinder zuständig ist, soll sie diese ehrgeizigen Ziele im Schongang erreichen. Leistung, Disziplin und Beurteilung haben im linksliberalen Bildungsdiskurs kein gutes Image. „Jedes Kind ist sehr gut“, ließen die Grünen im Wahlkampf 2017 auf Plakate drucken. Na, dann …!
  3. Der Linksliberalismus verheddert sich regelmäßig in den ungeklärten Widersprüchen seines Menschenbilds. Einerseits gibt er sich in anthropologischer Hinsicht materialistisch und soziologisch. Andererseits spart er nicht mit moralischen Appellen, die eher in den Fundus einer idealistischen, wenn nicht sogar jesuanischen Ethik passen. Da passt vieles nicht zusammen. Holen Sie sich, was Ihnen zusteht, propagierte die SPÖ im Wahlkampf 2017. Zwei Jahre später hieß es aber, dass ein Wahlsieg der SPÖ gleichbedeutend sei mit dem Sieg der Menschlichkeit. Ja, was nun? Siegt die Menschlichkeit dann, wenn sich jeder holt, was ihm nach eigener Einschätzung zusteht?
  4. Widersprüchlich ist auch die Haltung zur Religion. Verbreitet ist die Aversiongegen alles Katholische. Dabei müsste religionsfernen Linksliberalen auffallen, dass sie im Heizhaus der sozialen Wärme oft mit Christen an denselben Hebeln hantieren. Immerhin werfen sie ÖVP-Politikern, die weniger ausgeprägte sozialpolitische Positionen vertreten als sie selbst, schnell einmal vor, diese seien zu wenig „christlich“. Das klingt aus dem Mund von Atheisten kurios. So unduldsam Linksliberale häufig mit dem „reaktionären“ Katholizismus umgehen, so tolerant verhalten sie sich dem Islam gegenüber, weil sie dem „Fremden“ grundsätzlich wertschätzend gegenübertreten wollen. Das schafft unlösbare Widersprüche, denn Scharia und Patriarchat sind, verglichen mit den Resten des katholischen Konservatismus, tatsächlich eine Kampfansage an Aufklärung und Emanzipation.
  5. Das Problemthema Migration wurde vom Linksliberalismus jahrelang ausschließlich unter dem Bereicherungs- und Buntheitsnarrativ abgehandelt. Wer dagegenhielt, dass dies nur die eine Seite der Medaille sei, geriet schnell in den Verdacht, eine dumpfe Rechtsbacke mit pathologischen Phobien zu sein. So dumm und menschenverachtend Rassismus ist, offene Grenzen, verbunden mit bedingungsloser Anerkennung aller kulturellen Differenzen, sind keine politisch brauchbare Lösung. Mittlerweile ist diese Einsicht auch bei sozialdemokratischen Parteien angekommen. Sie folgten aber mehr der Not der Verhältnisse als dem eigenen ideologischen Trieb. Das sieht man ihnen immer noch an.
  6. Wenn es um Vermögensverteilung, Umweltschäden und Migration geht, dann begeben sich Linksliberale gerne in den kollektiven Mea-culpa-Modus. Ob Syrien oder Afghanistan, Kongo oder Pakistan, ob Plastikmüll oder ignorierte Menschenrechte: „Wir sind schuld“. Wer genau zu diesem autoaggressiv abgewatschten „Wir“ gehört, entzieht sich meist einer tragfähigen Analyse. Denn Antworten wie „der Westen“ oder „die reichen Staaten“ liefern ein undifferenziertes Bild von Zuständigkeit, Verantwortung und Schuld, unbrauchbar als Grundlage für politisches Handeln.
  7. Das gemeinsame Europa ist eine wertvolle gesellschaftspolitische Vision, die wir nicht leichtfertig auf’s Spiel setzen sollten, einerseits nicht durch populistischen Nationalismus, andererseits aber auch nicht durch allzu ehrgeizige Vereinigungs- und Zentralisierungspläne. Das von Linksliberalen protegierte Konzept einer Sozialunion wäre beim gegebenen Stand der Ökonomie nur als Zwangsmaßnahme realisierbar, also gar nicht. Europa ist ökonomisch, politisch und kulturell ein zu heterogenes Gebilde. „Vereinigte Staaten von Europa“ sind als Fernziel nicht obsolet, aber eben ein Fernziel. Der Weg dahin kann, wenn er nicht ins Gegenteil umschlagen soll, nur ein Weg der kleinen Schritte sein. Der Nationalstaat ist kein erledigtes Staatsmodell von gestern, und Heimat im Sinne von regionaler Zugehörigkeit ist und bleibt eine wirksame emotionale Kraft.
  8. Der Linksliberalismus beansprucht, eine Art Gralshüter des demokratischen Rechtsstaats zu sein. Ließe man das bürgerliche Lager allein regieren, so lautet die Warnung, würde sich früher oder später wieder der Faschismus einschleichen. So wichtig die Wachsamkeit gegenüber Rechtsradikalismus auch ist, möchte ich doch zur rationalen Eingrenzung der antifaschistischen Kampfzone aufrufen. Grundsätzlich ist es nämlich nicht verboten, politisch rechts zu stehen, solange der „Verfassungsbogen“ (Andreas Khol) nicht verlassen wird.

    Bernd Höcke ist ein Faschist, aber Manfred Haimbuchner ist keiner. Ein Blick auf die Universalgeschichte der Linken zeigt auch, dass ihr Alleinvertretungsanspruch auf demokratiepolitische Zuverlässigkeit nur im Geisteszustand großflächiger Geschichtsvergessenheit haltbar ist. Radikaler Sozialismus hat, wenn er an der Macht war, immer Diktaturen etabliert. Wachsamkeit ist übrigens auch jenen Linken gegenüber angebracht, die heute ganz offen sagen, dass ihre Vision einer sozial gerechten und/oder ökologisch intakten Welt im Rahmen des liberaldemokratischen Rechtsstaats nicht zu verwirklichen ist. Man lese unter diesem Fokus einmal Interviews mit Carola Rackete.
  9. Ein bizarres und dadurch aufschlussreiches Kapitel ist der Wandel der linksliberalen Sexual- und Geschlechterideologie – von den Freie-Liebe-Narrativen der Sechzigerjahre bis zur #MeToo-Debatte der Gegenwart. Die Genese dieses Diskursfelds zeigt schonungslos, wie fehleranfällig auch die Linke durch ihre eigene Geschichte stolpert. Hin- und hergerissen zwischen Extremen, die mit Glücksverheißungen locken, werden auch Linksliberale immer wieder mit den unerwarteten und unerwünschten Nebenwirkungen allzu ehrgeiziger Weltentwürfe konfrontiert. Am Ende könnte daher die Einsicht stehen, dass glanzvolle Utopien des absolut Guten eher eine seltsame und verhängnisvolle Schrulle unseres Gehirns sind als ein brauchbarer Kompass für politisches Handeln.

    Nicht an den spektakulären Rändern, sondern irgendwo in der breiten, oft auch langweiligen Mitte finden wir meist jene Instrumente der humanen Vernunft, mit denen der „Kleine Gott der Welt“ sein Dasein akzeptabel gestalten kann. Der Linksliberalismus ist nicht der einzig wahre Menschheitsbeglücker, sondern eine gesellschaftspolitische Variante neben anderen. Die besten Stücke aus seinem Fundus erweisen sich als Wohltat, andere als Modeerscheinung mit Ablaufdatum und wieder andere als Irrtümer, die aus guten Gründen in der Rumpelkammer der Geschichte verschwinden.

Der Autor ist Germanist, Literaturkritiker und Lehrbeauftragter für Literaturwissenschaft an der PH der Diözese Linz. Diese Woche erscheint sein neues Buch.

Lesen sie hier die Replik bzw. Buch-Rezension von Armin Thurnher.

Im Heizhaus der sozialen Wärme Schacherreiter - © Foto: Otto Müller
© Foto: Otto Müller
Buch

Im Heizhaus der sozialen Wärme

Das Wartungsprotokoll des Linksliberalismus
Von Christian Schacherreiter
Otto Müller 2020
200 S., geb., € 20,–

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