«Ich kenne niemanden, der erklärt, Seenotrettung sei kriminell», sagt der Theologe Richard Schröder. Im Bild ein Boot mit Migranten vor der libyschen Küste, aufgenommen im Februar 2018. (Bild: Olmo Calvo / AP)

«Ich kenne niemanden, der erklärt, Seenotrettung sei kriminell», sagt der Theologe Richard Schröder. Im Bild ein Boot mit Migranten vor der libyschen Küste, aufgenommen im Februar 2018. (Bild: Olmo Calvo / AP)

Interview

«Die Kirche kann barmherzig sein, der Staat darf das nicht»

Der Theologe Richard Schröder zählt zu den schärfsten Kritikern der privaten Seenotrettung. Ein Interview über Grenzen der Nächstenliebe, politisierende Kirchenführer und das verlorene Vertrauen der Deutschen in die Medien.

Marc Felix Serrao
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Beim Interview mit Richard Schröder in seinem Haus im brandenburgischen Blankenfelde liegt eine Kettensäge neben dem Wohnzimmertisch. Der 75-jährige Theologe hat damit gerade in seinem Garten gearbeitet. Das schwere Gerät passt zum Hausherrn. Schröder ist ein Sozialdemokrat und Protestant, wie es nur noch wenige gibt, zumindest im öffentlichen Leben der Bundesrepublik. Nichts von dem, was der emeritierte Professor sagt, wirkt so, als hätte er es mit kleinem Besteck zurechtgestutzt, damit bloss keiner Anstoss nimmt.

Deutschlands Kirchen verlieren immer mehr Mitglieder. Haben Sie als Theologe dafür eine Erklärung, Herr Schröder?

Eine Erklärung ist sicherlich die Kirchensteuer, eine andere ist der nachlassende soziale Druck. Wo 90 Prozent der Bewohner im Ort Kirchenmitglieder sind, muss sich jeder, der über einen Austritt nachdenkt, rechtfertigen. Solche Orte existieren aber nicht mehr, Kirche ist heute freiwillig. Dann ist da der demografische Faktor. Es gibt mehr Todesfälle als Geburten, das reduziert unabhängig von Austritten. Bei den Katholiken spielt ausserdem die Diskussion über die Missbrauchsfälle eine Rolle, bei den Evangelischen nicht so sehr, weil das Problem nicht die gleiche Dimension hat.

Die evangelische Kirche musste in Deutschland im vergangenen Jahr etwa 220 000 Austritte verkraften, die katholische Kirche 216 000.

Ich war noch nicht fertig. Bei den Protestanten höre ich oft, dass sich einer über einen bestimmten Kirchenvertreter ärgert und sagt: «So, jetzt reicht’s!» Davor warne ich. Die Waffe kann man nur einmal einsetzen.

«Wenn wir alle, die kommen wollen, hereinlassen, brechen unsere sozialen Sicherungssysteme zusammen.» Richard Schröder an seinem Schreibtisch im brandenburgischen Blankenfelde. (Bild: NZZ)

«Wenn wir alle, die kommen wollen, hereinlassen, brechen unsere sozialen Sicherungssysteme zusammen.» Richard Schröder an seinem Schreibtisch im brandenburgischen Blankenfelde. (Bild: NZZ)

Ärgern Sie sich auch?

Sehr oft, vor allem über Kurzsichtigkeiten aus Barmherzigkeit. Ich werde deshalb aber nicht austreten.

Die einen meinen, die Kirche sei noch nicht zeitgemäss genug, die anderen meinen, sie sei schon viel zu zeitgemäss. Was sagen Sie?

Ich habe kürzlich im Fernsehen einen Gottesdienst aus Hamburg gesehen, der handelte von der Schönheit des weiblichen Körpers. Die Grundlage war das Hohelied. Dieser alttestamentliche Text gehört zur Bibel, weil man ihn nicht als Liebeslyrik gedeutet hat, sondern als Ausdruck des Verhältnisses der Seele zu Christus. Die erotische Dimension wurde mystisch verstanden. Im Gottesdienst aus Hamburg war davon keine Rede, da ging es nur um den weiblichen Körper. Das fand ich nicht in Ordnung. Den Gottesbezug darf man nicht ausblenden.

Steckt im Gottesdienst heute zu viel Alltag?

Nein, das ist nicht das Problem. Aber die Thematisierung des Alltags muss unter dem Gesichtspunkt stattfinden: Wie sieht Gott das? Das ist der Markenkern von Kirche, wie man heute sagt. Es geht darum, über Fragen nachdenken zu können, die einem sonst nicht in den Sinn kommen. Kirche soll ein Erholungsort für die Seele sein. Die Formen können variieren, aber das Gerüst muss erkennbar bleiben.

Gehen Sie jeden Sonntag in die Kirche?

Alle zwei Wochen. Ich will auch mal ausschlafen.

Wie beurteilen Sie die Arbeit des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm? Ein evangelischer Regionalbischof hat ihm kürzlich geraten, seine «moralische Autorität» nicht immer so vor sich herzutragen. Da ging es ums Thema Seenotrettung.

Ich teile diese Kritik. Sowohl Herr Bedford-Strohm als auch die Hauptredner des letzten Evangelischen Kirchentages blenden aus, dass das Thema Seenotrettung mehrere Seiten hat. Sie differenzieren nicht, sondern sagen nur: Das ist gut und jenes böse. Im ersten Schritt wird gefordert, private Seenotrettung zu forcieren, weil wir Menschen im Mittelmeer nicht ertrinken lassen dürfen. Im zweiten Schritt wird ein Feindbild aufgebaut: gegen die Kriminalisierung der Seenotrettung. Das ist propagandistisch sehr effektiv. Ich kenne aber niemanden, der erklärt, Seenotrettung sei kriminell. Da wird gegen jemanden gekämpft, den es gar nicht gibt.

Auf dem Evangelischen Kirchentag wurde eine Resolution an die Kirchenleitung verabschiedet: Man möge ein eigenes Schiff entsenden.

Wenn die Kirche das tut, muss sie vorher erklären, welcher Staat ihr Zusagen gegeben hat, die Geretteten aufzunehmen. Alles andere wäre unverantwortlich. Das Problem der Seenotrettung war und ist, dass die Boote die europäischen Anrainerstaaten ansteuern und dann verlangen, dass alle Menschen aufgenommen werden. Das Seerecht verlangt aber, den nächstgelegenen sicheren Hafen anzulaufen. Wenn ich mich an der Grenze der libyschen Hoheitsgewässer befinde, liegt der nicht in Italien oder Malta, sondern in Afrika. Und wenn Libyen wegen des Bürgerkriegs unsicher ist, könnte man Tunesien ansteuern. Rettungsboote, die nach Europa fahren, liefern de facto die Dienstleistungen, für die Migranten Schlepper teuer bezahlen: eine sichere Fahrt übers Mittelmeer und illegale Einwanderung.

«Stellen Sie sich vor, jemand rettet einen Menschen und setzt ihn, ohne vorher zu fragen, vor Ihrem Haus ab: ‹Den musst du jetzt übernehmen.› Das tun die Seenotretter.»

Sie klingen wie Matteo Salvini.

Ich schätze Herrn Salvini überhaupt nicht. Aber er hat recht, wenn er sagt: Ihr dürft die Menschen erst bei uns absetzen, wenn geklärt ist, welcher Staat sie aufnimmt. Stellen Sie sich vor, jemand rettet einen Menschen und setzt ihn, ohne vorher zu fragen, vor Ihrem Haus ab: «Den musst du jetzt übernehmen.» Das tun die Seenotretter. Das hat Frau Rackete getan, als sie meinte, es jucke sie nicht, was Salvini sage, sie fahre jetzt in diesen Hafen rein.

Carola Rackete, die Kapitänin der ««Sea-Watch 3», ist nach eigenen Angaben nicht einfach so in den Hafen von Lampedusa gefahren. Die medizinischen und hygienischen Zustände an Bord seien untragbar gewesen, hat sie gesagt.

Die Kranken, die Schwangeren und die Kinder waren da aber schon nicht mehr an Bord. Frau Racketes Hauptargument war ein anderes. Sie sei besorgt gewesen, dass jemand ins Wasser springe und versuche, an Land zu schwimmen. Das ist aber keine entschuldigende Notlage. Kein Kreuzfahrtschiff auf der Welt kann garantieren, dass nicht mal einer ins Meer springt. Trotzdem darf so ein Schiff deshalb nicht einfach in einen Hafen seiner Wahl einfahren. Das grösste Ärgernis ist aber nicht die Kapitänin, sondern die europäische Uneinigkeit, die vernünftige Lösungen verhindert.

Im Christentum spielt der Begriff Barmherzigkeit eine zentrale Rolle. Handelt Carola Rackete nicht barmherzig?

Die Barmherzigkeit nimmt einseitig für Menschen in Not Stellung, das stimmt. Aber es gibt auch die Gerechtigkeit, und die kann nicht einfach dem Herzen folgen, sondern muss nach Regeln fragen. Die Kirche kann barmherzig sein, der Staat darf das nicht. Er muss nach dem Massstab der Gerechtigkeit handeln, auch wenn die Ergebnisse die Barmherzigen verstören. Ein Beispiel: Jeder, der aus Seenot gerettet wird, ist traumatisiert. Und weil uns sein Schicksal berührt, möchten wir sagen: Du darfst bleiben. Das geht aber nicht, weil die Regel nicht lauten kann: Wer in Seenot gerät, darf nach Europa, auch wenn er sonst keine Berechtigung hat. Die Regel lautet: Bleiben darf, wer anerkannte Fluchtgründe vorweisen kann. Wenn das nicht der Fall ist, kann deine Flucht noch so traumatisch gewesen sein, du musst zurück.

Frau Rackete sagt, die alten Regeln seien obsolet geworden. Der Klimawandel schaffe «Klimaflüchtlinge», denen man die Einreise nicht verwehren könne.

Wenn wir alle, die kommen wollen, hereinlassen, brechen unsere sozialen Sicherungssysteme zusammen. Der Klimawandel macht doch nicht ganz Afrika zur Wüste. Er wird innerafrikanische Migrationen auslösen.

Wen wollen Sie reinlassen?

Es gibt für Menschen aus Afrika zwei Gründe, nach Europa zu kommen. Der eine Grund ist die Flucht vor Krieg und individueller Verfolgung; die genauen Bedingungen stehen in der Genfer Flüchtlingskonvention, Hunger gehört beispielsweise nicht dazu. Der zweite Grund ist die individuelle Suche nach Glück. Für solche Menschen braucht es ein Einwanderungsgesetz. Wer dann legal einreist, muss sich durch seiner eigenen Hände Arbeit den Lebensunterhalt verdienen können, also in unseren Arbeitsmarkt passen. Und er muss unsere Sprache beherrschen. Da wir noch immer kein Einwanderungsgesetz haben, erklären alle, sie seien Flüchtlinge, oft mit erfundenen Geschichten. Als Flüchtling wird derzeit nur jeder Dritte anerkannt.

Für Kapitänin Rackete hat Deutschland auch wegen seiner Kolonialzeit eine Verantwortung, Menschen aus Afrika aufzunehmen.

Dieses Argument setzt voraus, dass wir die Thesen der Kollektiv- und Erbschuld zulassen: Menschen, die mit Kolonialismus nichts zu tun haben, sollen Entschädigung leisten an Menschen, die Kolonialismus selbst gar nicht erlebt haben. Und die östlichen Länder Europas hatten gar keine afrikanischen Kolonien.

Gibt es keine historische Schuld?

Als Anerkennung konkreter historischer Schuld wie des brutalen deutschen Kolonialkriegs gegen die Herero könnte eine Stiftung ins Leben gerufen werden, die Stipendien für Herero auszahlt. Aber Hilfe aus Schuldgefühlen und Hilfe als Geschenk machen nicht frei. Hilfe zur Selbsthilfe und zum wechselseitigen Vorteil, das sollte angestrebt werden. Im Übrigen möchte ich die Behauptung zurückweisen, dass der Kolonialismus die zuvor erfreulichen Lebensbedingungen in Afrika verschlechtert hätte.

«Die wichtigsten Fluchtursachen sind der gewaltige Geburtenüberschuss und korrupte Regierungen. Sobald eine afrikanische Regierung das Wohl des Volkes im Auge hat, bessert sich die Lage, und die Menschen fassen Hoffnung.»

Wie meinen Sie das?

Der Kolonialismus in Afrika im 19. Jahrhundert entstand parallel zur Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei. Die Verhältnisse, die die Engländer damals an vielen Orten in Afrika vorgefunden haben, waren barbarisch. Durch den Sklavenhandel, nicht nur mit Europa, sondern vor allem mit der arabischen Welt, hatten sich afrikanische Herrscher etabliert, die ihre Landsleute an Sklavenhändler verkauften. Wenn wir über das grosse Elend sprechen wollen, das über Afrika hereingebrochen ist, dann müssen wir über Sklaverei sprechen. Sicher, es gab schlimme Kolonialgeschichten, in Kongo zum Beispiel. Aber es gab auch Kolonien, die, als sie im 20. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit erhielten, ein funktionierendes Gesundheits-, Verkehrs- und Schulwesen besassen. So wie es heute Länder gibt, aus denen kaum jemand zu uns kommt, Rwanda und Botswana zum Beispiel. Warum? Die Leute sagen: Bei uns geht’s bergauf, wir wollen nicht weg.

Warum geht es dort bergauf?

Die wichtigsten Fluchtursachen sind der gewaltige Geburtenüberschuss und korrupte Regierungen. Sobald eine afrikanische Regierung das Wohl des Volkes im Auge hat, bessert sich die Lage, und die Menschen fassen Hoffnung. Wie in Botswana. Dort werden die Einnahmen aus den Bodenschätzen, in diesem Fall Diamanten, in eine Staatskasse geleitet, die das Sozialsystem des Landes finanziert. Wie die Norweger mit ihrem Öl.

Was kann ein Europäer tun, der das Vorgehen der privaten Seenotretter, so wie Sie, kritisch sieht, die Zustände auf dem Mittelmeer und in den libyschen Lagern aber schwer erträglich findet?

Ich spende ans UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Uno. Die betreiben Lager, in denen es ordentlich zugeht und in denen man internationale Asylanträge stellen kann. Sonst gibt es inzwischen viele Menschen aus Afrika unter uns. Da ist jede Unterstützung sinnvoll, da gibt es ein Betätigungsfeld für Barmherzigkeit. Andererseits sollte niemand die Behörden behindern, wenn jemand abgeschoben werden soll. Das passiert ja oft, dass noch schnell gewarnt wird, damit sich einer verstecken kann. So etwas geht nicht. Die Barmherzigkeit darf die Gerechtigkeit nicht torpedieren.

Mit einer solchen Haltung gilt man in Deutschland rasch als Rechtsaussen. Wie gehen Sie damit um?

Gar nicht. Eine Website aus Leipzig wollte kürzlich herausgefunden haben, dass ich Rassist bin. Woran die das erkannt haben? Ich hatte gesagt, dass nicht alle, die zu uns kommen wollen, auch kommen können. Das sei Ausgrenzung, stand auf der Seite, und Ausgrenzung sei Rassismus. Das ist so schwachsinnig, dass es die Aufregung nicht lohnt.

Wie erleben Sie die Berichterstattung der deutschen Medien?

Da muss ich etwas ausholen. Das Erbe des Nationalsozialismus zeigt sich nicht nur dadurch, dass es auch heute noch Neonazis gibt. Das ist furchtbar, und man fragt sich, wie die Leute so denken können, zahlenmässig ist es aber zum Glück nicht gefährlich. Das andere Erbe würde ich als deutsche Gespensterfurcht bezeichnen. Die Menschen hier haben eine unglaubliche Angst davor, dass der alte Ungeist wieder hervorkriechen könnte. Eine Folge ist, dass die Medien bei heiklen Themen wie Migration mit Beschönigungen und Selbstzensur arbeiten. Zu Beginn der Flüchtlingskrise wurde über kriminelle Vorkommnisse, an denen Migranten beteiligt waren, fast gar nicht berichtet – aus Sorge, die Bevölkerung könne nicht differenzieren und würde mit Ausländerhass reagieren.

Das hat sich aber geändert.

Zum Glück. Bei den Online-Zeitungen, die ich lese, taucht heute immer wieder eine Art Warnhinweis auf: «Normalerweise nennen wir die Herkunft eines Täters nicht, aber in diesem Fall machen wir es doch, weil . . .» Und so weiter. Der Ausdruck «Lügenpresse», den Pegida in die Welt gesetzt hat, ist leider trotzdem geblieben, wie der Generalverdacht vieler Menschen gegen Politik und Medien. Wie man diesen Vertrauensverlust reparieren kann, weiss ich nicht.

Ein Protestant der alten Schule

Der gebürtige Sachse Richard Schröder, Jahrgang 1943, hat Theologie und Philosophie in der DDR an kirchlichen Hochschulen studiert und dann als Pfarrer und Dozent gearbeitet; das Studium an der Universität verwehrte ihm der Staat. Für die ostdeutsche SPD wurde er 1990 in die erste und einzige frei gewählte Volkskammer gewählt, im Jahr darauf ging er als Professor an die Berliner Humboldt-Universität. Bis 2009 war Schröder ausserdem Richter am brandenburgischen Verfassungsgericht. Er hat Bücher über die Kirche, die Freiheit und die deutsche Einheit geschrieben und beteiligt sich bis heute rege an politischen Debatten.

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